1. Stammtisch mit Gabriele Hamzé
Bei unserem letzten Mitglieder-Stammtisch am 16. Mai hatten wir das Glück, dass sich Gabriele Hamzé zuschalten konnte, die sich mit ihrem Mann seit Ostern bis September in München aufhält. So konnte sie uns mit den neusten Nachrichten über das Projekt ‚Stifte der Zuversicht‘ und die Situation vor Ort versorgen.
Zuerst berichtete sie von der sich weiter zuspitzenden Versorgungslage. Neben der ungeheuren Teuerung hatten die Menschen im Gebiet Soueida einen harten Winter mit 50 l Heizöl und einer Flasche Gas zum Kochen alle drei Monate zu überstehen. Strom gibt es täglich nur an zwei Stunden. Neu sind die Wasserprobleme – es kommt meist kein Wasser aus den Hähnen, so dass es zugekauft werden muss.
Seit einiger Zeit gibt es in der Stadt Soueida, in der vor allem Drusen und in der Minderheit Christen leben, jeden Freitag Demonstrationen gegen das Regime von Präsident Baschar Hafiz al-Assad. Über eine lange Zeit waren weder Polizei noch Militär zu sehen. Es scheint, dass die schwierige Versorgungslage als Strafe für diesen Protest zu interpretieren ist – in anderen Regionen Syriens ist es nicht ganz so schlimm. Seit neuestem ist das Militär nun doch aufgetaucht, und die Menschen haben Angst vor Gewalt und weiteren Repressionen.
Trotz allem läuft die Arbeit in der Schule für die Kinder des Flüchtlingslagers Era so gut als möglich weiter, wie wir es in unserem letzten Bericht vom September beschrieben haben: https://fokusnahost.org/blog/2023/11/30/837/. Nach dem harten Winter sind die Familien wieder aus den Gegenden zurückgekommen, in denen es im Winter wärmer ist, aber keine Arbeitsmöglichkeiten gibt. Nun arbeiten sie wieder auf den fruchtbaren Feldern als Lohnarbeiter*innen. Momentan kommen ungefähr 60 Kinder dreimal in der Woche in die Schule. Die Erzieherinnen arbeiten gerne hierher, um mit den Kindern zu werken und zu basteln, ihre musischen Begabungen zu fördern und ihnen die Grundlagen im Lesen, Schreiben, Rechnen und in Umwelterziehung zu vermitteln. Alles in der Hoffnung, dass es der eine oder die andere in eine staatliche Schule schafft und die anderen wichtige Grundlagen für ihr weiteres Leben erhalten.
Ein wachsendes Problem sind die staatlichen Captagon-Produktionsstätten in der Gegend. Diese Drogen werden massiv nach Jordanien und in die Emirate exportiert bzw. geschmuggelt. Diese Länder versuchen natürlich, dies mit allen Mitteln zu unterbinden. So wurden solche Produktionsstätten auch schon von Jordanien aus bombardiert. In den Schulen werden die Taschen der Kinder nach Drogen durchsucht, weil sie oft an Jugendliche verschenkt werden.
Gabriele Hamzé und ihr Mann sind trotz ihres Alters immer noch sehr aktiv für ihr Herzensprojekt und telefonieren fast täglich über WhatsApp mit dem Zentrum. Bei unserem Stammtisch haben sie auch ihren großen Dank an alle Spenderinnen und Spender für die Unterstützung ihrer Arbeit zum Ausdruck gebracht.
2. Auszüge aus einem Beitrag zur Lage in Syrien von Amill Gorgis, syrisch-aramäischer Christ, in Berlin lebend
„Als Teil des alten Mesopotamiens gilt die Region als ‚Wiege der Zivilisation‘. … An vielen Orten begegnen uns die Zeugnisse der Sumerer, Phönizier, Hethiter, Aramäer, Assyrer, Armenier, Römer, Griechen, und verschiedener arabisch-islamischer Dynastien sowie Jeziden und Kurden und anderer Völker. Auch wenn heute über 70 Prozent der Einwohner Syriens sunnitische Muslime sind, so ist Syrien doch in seiner Zusammensetzung bis heute ein multi-ethnischer und -religiöser Staat. Die kleineren religiösen und ethnischen Gruppen verstehen sich als Nachfahren jener Völker. Mit ihren Sprachen, Liedern und Traditionen sind sie lebendige Träger jener alten Kulturen, die dieses Land in seiner Geschichte bis in die Gegenwart hinein geprägt haben.
Die Lage in Syrien hat sich nach 2011 dramatisch verändert. Mehr als eine halbe Million Menschen haben ihr Leben im Krieg verloren. Rund 13 Millionen Syrer, etwa die Hälfte aller Einwohner, mussten ihre Heimat verlassen. Knapp die Hälfte der Geflüchteten befindet sich innerhalb Syriens auf der Flucht. Die anderen sind vor der Gewalt ins Ausland geflohen, vor allem in die Nachbarländer.
Zerstörung, Korruption und katastrophale wirtschaftliche Verhältnisse prägen heute nicht nur Syrien, sondern die ganze Region. Es mangelt an grundlegender Versorgung. …
Vor dem Krieg lag die Einschulungsquote in Syrien bei 97 Prozent eines Altersjahrgangs, die Analphabetenrate bei den 15- bis 25-jährigen bei nur 3,5 Prozent. Heute gehen laut UNICEF mehr als zwei Millionen syrische Kinder nicht mehr zur Schule. Das ist fast die Hälfte aller Schulpflichtigen.
Längst ist Syrien kein unabhängiger Staat mehr, sondern finanziell von seinen Verbündeten Russland und Iran abhängig.
Die Mittelschicht des Landes ist verarmt. Dies hat besonders für die christlichen Gemeinden Konsequenzen, war die Mittelschicht doch ihr fundamentales Rückgrat. Durch deren Unterstützung konnte das Gemeindeleben und seine Institutionen, wie Schulen, Krankenhäuser, Altersheime usw. aufrechterhalten werden. … Man schätzt, dass es etwa noch ein Drittel der Vorkriegszahlen sind. …
Was kann Deutschland und Europa tun? Aus meiner Sicht ist das wirtschaftliche Embargo kontraproduktiv. Es sollte beendet werden. Es hilft nicht, dass die Gesellschaft in Syrien demokratischer wird. Die Menschen verlieren ihre Lebensgrundlage, haben aber keine Möglichkeit, politisch Einfluss zu nehmen.
Jede Möglichkeit zum Dialog mit gemäßigten Gruppen sollte ergriffen und verfolgt werden.
Den vorliegenden Text hat Amill Gorgis für das missio Magazin geschrieben. (www.missiomagazin.de)